Im Jahr 2021 setzte das Mahngericht Stuttgart ein gerichtliches Verfahren in Gang, bei dem es gegen die gesetzlich vorgeschriebene Zustellungspflicht und die Rechte einer Einzelunternehmerin verstieß – und damit einem Insolvenzvorhaben den Weg bereitete, das eine deutsche GmbH gezielt gegen eine Unternehmerin südosteuropäischer Herkunft betrieb.
Am 14. Mai 2021 stellte das Amtsgericht Stuttgart einen Mahnbescheid über 150.000 Euro einem Dritten zu, der ein Berliner Anwalt war – und entschied damit über die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen, ohne ihr das Recht zu überlassen, selbst zu handeln.
Die Zustellung des Mahnbescheids an den Berliner Rechtsanwalt, anstelle der Zustellung an die Antragsgegnerin beziehungsweise Darlehensnehmerin, wurde vom Rechtsanwalt der Antragstellerin am 14. April 2021 im Rahmen des Mahnverfahrens mit dem Aktenzeichen 21‑8880744–0‑0-NEDV beantragt.
Der Mahnbescheid, den die Darlehensnehmerin erst am 14. Mai 2021 über das E‑Mail-Portal des Anwalts erhielt, enthielt lediglich die Forderungsseite und kein Feld für Widerspruch – obwohl ein Mahnbescheid nach geltendem Recht nur wirksam und zulässig ist, wenn er der betroffenen Person selbst zugestellt wird und ihr die Möglichkeit bietet, der Forderung zu widersprechen, sofern sie unzutreffend ist (§ 692 ZPO).
Zustellungen eines Mahnbescheids an Dritte sind nach § 51 ZPO nur dann zulässig, wenn eine gesetzliche Vertretung besteht – etwa bei Betreuung, Minderjährigkeit oder juristischen Personen. Die Antragsgegnerin war jedoch eine geschäftsfähige Einzelunternehmerin. Und ein Einzelunternehmer bedeutet: nicht betreut, nicht minderjährig und keine juristische Person.
Die Darlehensgeberin GmbH hatte den Mahnbescheid über 150.000 Euro Darlehen, die 2019 und 2020 ohne Sicherheiten und mit einer vertraglich vereinbarten Laufzeit von fünf Jahren an das Unternehmen gegeben wurden und dessen Start dienen sollten, am 12. Februar 2021 beim Amtsgericht Stuttgart gegen die Einzelunternehmerin erlassen.
Vier Wochen nach dem letzten Darlehen hatte der gesetzliche Vertreter der Darlehensgeberin GmbH die Einzelunternehmerin im September 2020 schriftlich zur Insolvenzanmeldung aufgefordert – mit dem Hinweis, sie solle sich an ihren damaligen Anwalt oder Steuerberater wenden.
Zwei Monate vor Erlass des Mahnbescheids hatte derselbe Vertreter die Unternehmerin gefragt, wie es ohne Anwalt weitergehen soll, nachdem ihm der Anwalt der GmbH mitgeteilt hatte, dass er die Unternehmerin nicht mehr vertrete.
Der Antragsteller des Mahnbescheids war sich offenbar so sicher im Ausgang des Verfahrens, dass er der Darlehensnehmerin bereits im Dezember 2020 den Verkauf von Gutscheinen untersagte – mit der Begründung, sie sei überschuldet und werde bei einer ersten Mahnung in die Insolvenz geraten. Und dass bei ausbleibender Insolvenzanmeldung nach Mahnung ein Fall von Betrug und Insolvenzverschleppung vorliege, wodurch sie nie wieder ein eigenes Geschäft führen könne.
In dem Moment, in dem das Amtsgericht Stuttgart den Mahnbescheid über 150.000 Euro nicht der Einzelunternehmerin selbst, sondern einem Dritten zustellte, wurde ihr unternehmerisches Schicksal fremdbestimmt – juristisch unvertretbar, wirtschaftlich katastrophal und persönlich folgenschwer. Als privat haftende Inhaberin verlor sie damit die Kontrolle über das Verfahren, das über ihre Zukunft entschied.
Wie konnte ein Berliner Anwalt zum Träger dieses Verfahrens werden, obwohl das Gesetz im Fall eines Mahnbescheids gegen eine Einzelunternehmerin weder eine Prozessvollmacht noch einen gesetzlichen Vertreter vorsieht – und welche Rolle spielten Justiz und Antragsteller dabei?