Chronik eines Systemversagens – Zwischen Krankheit, Herkunft und Hilflosigkeit
Im Schatten der Schilddrüse
Als die Berliner Ärztin im Juni 2022 die Diagnose stellte, die Schilddrüse sei nach zehn Jahren Radiojodtherapie gewachsen und produziere Hormone – obwohl sie die Schilddrüsenhormone selbst (T3 und T4) nicht gemessen hatte – befand sich die Patientin südeuropäischer Herkunft bereits in einem Kampf, ihre Selbstständigkeit aufzubauen, die Geld in die Insolvenzmasse bringen sollte, nachdem ihr Unternehmen im Regelinsolvenzverfahren (Az. 36 IN 5623⁄21) für nicht fortzuführen erklärt worden war.
Auch die Krankenkasse als Gläubigerin im Insolvenzverfahren gegen die Patientin vertrat sowohl am 19. Mai 2022 – fünf Monate nach der Insolvenzeröffnung (23. Dezember 2021) – als auch am 18. Juli 2022 die Auffassung, das Verfahren sei massearm und, dass aus der neuen Selbstständigkeit der Patientin kein Massezuwachs zu erwarten sei.
Genau in dieser Zeit war der Wert des Schilddrüsen-Steuerhormons TSH bei der Patientin plötzlich stark gesunken – von einem deutlich erhöhten Wert am 14. Juni (6,255 mIU/l) auf einen ungewöhnlich niedrigen Wert am 20. Juli (0,299 mIU/l). Diese drastische Veränderung ist durch zwei Laborberichte der behandelnden Arztpraxis eindeutig dokumentiert.
Ein so starker TSH-Abfall bei unveränderter Medikamentendosis ist medizinisch auffällig und sollte abgeklärt werden – etwa durch eine Überprüfung der Medikamentenaufnahme, möglicher Wechselwirkungen oder anderer körperlicher Belastungen.
ATA-Leitlinien: Was ein TSH-Abfall wirklich bedeutet
Laut den Leitlinien der American Thyroid Association (ATA) reagiert das Hormon TSH – das die Schilddrüse steuert – zeitverzögert auf Veränderungen im Hormonhaushalt. Der TSH-Wert zeigt also nicht den aktuellen Zustand, sondern spiegelt die hormonelle Entwicklung der vergangenen Wochen wider.
Ein plötzlicher Abfall des TSH-Wertes – wie im vorliegenden Fall – ist daher medizinisch nicht plausibel, wenn keine entsprechende Veränderung bei den Schilddrüsenhormonen T3 und T4 nachgewiesen wurde. Solch ein Abfall setzt normalerweise voraus, dass über längere Zeit zu viele Schilddrüsenhormone im Blut waren – etwa durch eine Überfunktion oder eine deutlich erhöhte Medikamentendosis. Wenn beides nicht zutrifft, muss der TSH-Abfall medizinisch hinterfragt werden.
Auch die Österreichische Schilddrüsengesellschaft betont in ihren Empfehlungen, dass ein starker TSH-Abfall ohne begleitenden Anstieg von T3 und T4 als krankhaft gilt und sorgfältig untersucht werden muss – da er auf eine Störung im System oder eine nicht erkannte Ursache hinweisen kann.
Medizinisch nicht plausibel: Der sprunghafte TSH-Abfall
Ein TSH-Wert von 6,255 mIU/l bei korrekter Einnahme von L‑Thyroxin sollte stabil bleiben. Ein sprunghafter Abfall auf 0,299 mIU/l bei unveränderter Dosierung ist ohne klinisches Ereignis, zusätzliche Medikation oder systemischen Fehler nicht erklärbar. Ein mehrfach auftretender, zu niedriger Laborwert ist weder Zufall noch Rechenfehler, sondern ein medizinischer Befund, der einer genauen Ursachenklärung bedarf.
Diagnosekaskade ohne Evidenz
Trotz des medizinisch nicht nachvollziehbaren TSH-Abfalls stellte die Berliner Ärztin zwei Diagnosen:
Am 14. Juni 2022: Morbus Basedow – vergrößerte Schilddrüse (Hyperthyreose mit diffuser Struma, ICD E05.0G), obwohl die Schilddrüsenhormone T3 und T4 zu keinem Zeitpunkt gemessen wurden, und der dokumentierte TSH-Wert mit 6,255 deutlich über dem Normbereich von 0,270–4,20 lag. Eine solche Diagnose ist nur bei gleichzeitig erniedrigtem TSH und erhöhtem T3/T4 sowie positiven TRAK-Antikörpern medizinisch haltbar – was hier nicht vorliegt.
Und am 12. Juli 2022: Verdacht auf eine medikamenteninduzierte Störung der Schilddrüsenfunktion (ICD T88.7V). Dies, obwohl kein anderes Medikament als L‑Thyroxin 125 µg dokumentiert wurde – ein Präparat, das seit Jahrzehnten eingenommen wird und nie eine solche Nebenwirkung gezeigt hat.
Die Illusion einer medizinischen Erklärung
Auf den ersten Blick wirken die Diagnosen plausibel: Eine vergrößerte Schilddrüse in Kombination mit der Einnahme von L‑Thyroxin 125 könnte theoretisch zu einem starken TSH-Abfall führen. Wenn die Schilddrüse plötzlich wächst und gleichzeitig das Medikament wirkt, kann der TSH-Wert sinken. Je nach angenommenem Wachstumstempo ließe sich sogar argumentieren, dass der Abfall innerhalb kurzer Zeit möglich sei – und damit die Aussage der ATA-Guidelines nicht zutreffe.
Doch diese Konstruktion hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Die Kombination aus einer angeblich wachsenden Schilddrüse und dem dokumentierten Medikamenteneinsatz soll den Eindruck erwecken, der TSH-Abfall sei medizinisch erklärbar.
Nur: Nach einer zehn Jahre zurückliegenden Radiojodtherapie kann die Schilddrüse biologisch nicht mehr wachsen. L‑Thyroxin zeigt nach jahrelanger Einnahme keine plötzliche Wirkung, die einen drastischen TSH-Abfall in kürzester Zeit erklären würde.
Die Diagnosen widersprechen somit den Laborwerten und der klinischen Realität. Und da die Laborwerte tatsächlich eine abrupte Senkung zeigen, bleibt eine Frage, die nicht ignoriert werden darf: Was hat den TSH-Wert tatsächlich verändert – und die Patientin in vier Notaufnahmen gebracht?
Täuschung oder Systemversagen?
Ein drastisch gesenkter TSH-Wert kann zu schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen führen – etwa zu Erschöpfung, Angstzuständen oder sogar Organversagen. Doch wenn diese Symptome nicht als medizinisch herbeigeführt erkannt werden – weil niemand Zugang zur Patientenakte hat und die tatsächlichen Zusammenhänge verborgen bleiben – entsteht ein gefährliches Narrativ:
Die Konstruktion der beiden Diagnosen – Morbus Basedow und medikamenteninduzierte Störung – sowie der abrupte Abfall des TSH-Wertes nähren den subtilen Verdacht, die Patientin habe gezielt auf das Scheitern ihres Unternehmens und eine medizinisch begründete Arbeitsunfähigkeit hingewirkt, um staatliche Leistungen zu beziehen. Ganz so, wie es vorurteilsbeladene Teile der Gesellschaft von südeuropäischen Migrant:innen erwarten würden.
Eine Vorstellung, die nicht nur falsch, sondern gefährlich ist – und genau deshalb muss diese vermeintlich medizinische Erklärung entlarvt werden.
Warum stellt eine Ärztin eine Diagnose, die den Laborwerten widerspricht?
Und warum akzeptiert die Krankenkasse diese Diagnose und finanziert die ärztliche Behandlung – obwohl sie gleichzeitig im Insolvenzverfahren Beiträge von der Patientin fordert?
Dabei ist die Krankenkasse nicht nur Gläubigerin, sondern auch Teil eines Systems, das laut Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes zur sozialen Verantwortung verpflichtet ist. Das sogenannte Sozialstaatsprinzip verlangt, dass staatliche Institutionen – einschließlich gesetzlicher Krankenkassen – die medizinische Versorgung nicht nur finanzieren, sondern auch qualitativ kontrollieren, um die Würde und Gesundheit der Versicherten zu schützen.
Das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besagt: Beiträge nach Leistungsfähigkeit, Leistungen nach Bedarf.
Doch wer zahlt, muss auch prüfen – denn ohne Kontrolle wird aus Versorgung schnell Verfehlung.
Nur die Finanzierung läuft weiter: Vom TSH-Abfall zur möglichen Organerschöpfung.
Wie lange kann ein System funktionieren, das nicht merkt, wenn es versagt?
Bald in Artikel 3.
