Ein Regierungschef darf das Land künstlerisch gestalten. Architektur, Stadtbild, Symbolik – all das sind legitime Ausdrucksformen politischer Vision.
Aber: Sobald das Land zur Bühne wird, auf der die Bevölkerung nur als Kulisse dient, verschiebt sich die ontologische Logik von Demokratie zu Inszenierung.
Edi Rama behandelt das albanische Volk nicht als souveräne Bürger:innen, sondern als Darsteller:innen – und Albanien nicht als Republik, sondern als Bühne, auf der er seine eigenen Machtästhetiken inszeniert.
Nachdem Edi Rama unter dem Vorwand fehlender Genehmigungen zahlreiche Gebäude aus der Ära Sali Berishas abreißen ließ – nur um auf denselben Grundstücken neue Projekte zu genehmigen, deren architektonische Visionen zwar ästhetisch ambitioniert, jedoch strukturell mit bekannten Mustern von Geldwäsche und Korruption verknüpft waren, wie der MDR (ARD-Verbund) im Jahr 2024 dokumentierte –, erschuf er Diella.
Diella, die virtuelle Ministerin Albaniens, wird von der Regierung als Schlüsselfigur im vermeintlichen Kampf gegen Korruption inszeniert.
Aber ist sie das wirklich?
Oder ist sie bloß die algorithmische Fortsetzung einer Macht, die sich der Kontrolle längst entzogen hat?
Strukturelle Widerlegung
Die Politikwissenschaftlerin Virginia Eubanks entkräftet diese Darstellung nicht mit Meinung, sondern mit dokumentierter Empirie.
In Automating Inequality zeigt sie anhand zahlreicher Fallstudien, dass automatisierte Entscheidungssysteme strukturelle Ungleichheiten nicht abbauen, sondern systematisch verstärken.
Wenn solche Systeme nicht ausdrücklich auf Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich ausgerichtet sind, beschleunigen und verbreitern sie bestehende Benachteiligungen.1
Auch juristisch ist die Konstruktion nicht haltbar.
Das von der EU geförderte JuLIA-Projekt dokumentiert, dass algorithmische Systeme in der öffentlichen Verwaltung fundamentale Risiken für Grundrechte erzeugen – insbesondere dann, wenn sie nicht rechtlich und institutionell kontrolliert werden.
Die Forscherinnen Aurelia Colombi Ciacchi und Lottie Lane analysieren, wie algorithmische Entscheidungen ihre demokratische Legitimität verlieren, sobald Kontrolle, Haftung und Transparenz fehlen.
Die philosophische Entkernung
Diella führt zur systematischen Entmaterialisierung des Verantwortungsprinzips.
Was früher als individuelle Entscheidung haftbar gemacht werden konnte, erscheint heute als algorithmischer Ablauf – entkoppelt von persönlichem Urteil, entzogen jeder direkten Kontrolle. Entscheidungen wirken nicht mehr als Ausdruck politischer Verantwortung, sondern als scheinbar neutrale Systemreaktionen.
Diese Verschiebung hat weitreichende Folgen:
Was einst überprüfbar war, wird nun algorithmisch legitimiert – und damit der politischen wie juristischen Kontrolle entzogen. Verantwortung verschwindet hinter dem Anschein von Objektivität.
Hannah Arendt beschreibt diese Dynamik in ihrer Bürokratieanalyse als „Banalität des Bösen“: Verantwortung löst sich auf, weil sie hinter routinisierten Abläufen verschwindet.2
Auch Byung-Chul Han entlarvt die sogenannte „Transparenzgesellschaft“ als Illusion – eine Welt, in der scheinbar alles sichtbar ist, aber nichts mehr wirklich überprüft werden kann. Kontrolle wird zur Fiktion, Verantwortlichkeit zur rhetorischen Geste.3
Diella ist keine Ministerin – sie ist die rhetorische Entlastung politischer Verantwortung.
Sie steht nicht für einen neuen Ansatz in der Korruptionsbekämpfung, sondern für die algorithmische Verschiebung von Verantwortung in eine Blackbox – mit dem Effekt, dass demokratische Kontrolle und Transparenz weiter geschwächt werden.
Die ökonomische Konzentration
Stehen zwei Unternehmen zur Auswahl, die auf den ersten Blick gleichwertig erscheinen, blickt Diella zurück: Wer hat bereits geliefert? Wer wurde bevorzugt? Wer gilt als zuverlässig? Doch diese „Vergangenheit“ ist längst politisch kodiert.
Die Hochhäuser in Tirana – künstlerisch, farbenfroh, visionär – tragen unverkennbar die Handschrift Edi Ramas. Sie entstanden unter seiner Regierung, vielfach trotz dokumentierter Geldwäscheverdachtsmomente. Auch der Dokumentarfilm Drogen, Dollars, Diplomatie – Albaniens Tanz mit der EU, produziert von Beetz Brothers Filmproduktion und am 15. April 2025 auf ARTE ausgestrahlt, dokumentiert die Geldwäscheverdachtsmomente rund um Tiranas Bauprojekte unter Edi Rama.
Wenn Diella diese Vergangenheit als Erfolgskriterium wertet, triumphiert nicht das beste Angebot, sondern das bereits etablierte Netzwerk. Die Auswahl wird zum zirkulären Prozess – weit entfernt von demokratischer Konkurrenz, weit entfernt von überprüfbarer Gerechtigkeit.
Shoshana Zuboff zeigt in The Age of Surveillance Capitalism, dass algorithmische Systeme Macht nicht dezentralisieren, sondern in wenigen Händen konzentrieren.4 Die Plattformisierung öffentlicher Vergabeprozesse schafft keine Transparenz, sondern strukturelle Ausgrenzung.
Diella ist kein Werkzeug der Gerechtigkeit, sondern ein Verstärker ökonomischer Vorentscheidungen – ein System, das bestehende Ungleichheiten nicht abbaut, sondern sie festschreibt und vertieft.
Die technische Undurchsichtigkeit
Diella trifft ihre Entscheidungen nicht im luftleeren Raum.
Sie folgt einer Systemarchitektur, deren Funktionsweise weder öffentlich dokumentiert, noch demokratisch kontrolliert oder juristisch zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Was nach algorithmischer Objektivität aussieht, ist in Wahrheit das Ergebnis menschlich gesetzter Parameter.
Cathy O’Neil zeigt in Weapons of Math Destruction, wie Blackbox-Algorithmen Entscheidungen treffen, die sich weder nachvollziehen noch überprüfen oder korrigieren lassen.5
Diella ist kein neutrales System.
Sie ist ein Produkt menschlicher Konstruktion – geprägt von Auswahlkriterien, die Menschen bestimmen, Schnittstellen, die Menschen gestalten, und Daten, denen Menschen ihr Gewicht verleihen. Und Menschen sind fehlbar. Aber auch anfällig für Korruption.
Diella handelt also nicht unabhängig, sondern bleibt strukturell gebunden – an die Interessen und Vorgaben jener, die sie programmieren und steuern.
Die verfassungsrechtliche Entgrenzung
Diella untergräbt die Grundprinzipien demokratischer Kontrolle.
Sie ersetzt nicht nur die Ministerin, sondern auch die Möglichkeit, ministerielle Entscheidungen kritisch zu hinterfragen.
Es existiert weder eine Instanz zur Revision, noch juristische Haftung oder öffentliche Überprüfung.
Im Vergleich zu europäischen Verwaltungsgrundsätzen wird deutlich:
Diella widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung, entzieht sich parlamentarischer Kontrolle und immunisiert politische Entscheidungen durch technische Strukturen.
Die algorithmische Fortsetzung der Korruption
Was als technische Lösung präsentiert wird, entzieht sich nicht nur der Kontrolle – es verschleiert die Korruption. Diella erscheint als Werkzeug gegen Ungleichheit – doch ihre Logik folgt keiner sozialen Gerechtigkeit, sondern strukturellen Vorentscheidungen. Was als algorithmische Objektivität inszeniert wird, ist in Wahrheit ein System menschlicher Konstruktion: programmiert von Menschen, gesteuert durch Interessen, gespeist mit Daten, die längst politisch kodiert sind.
Am Ende steht immer ein Mensch hinter dem Code. Und nur ein Mensch kann Verantwortung tragen.
Nach Rancière ist die Bühne nicht Raum für das Gemeinsame, sondern Ort der Aufhebung des Dissens.
Wenn politische Gestaltung zur Inszenierung wird, verliert die Bevölkerung ihre Stimme.
Was als Vision verkauft wird, ist die Neutralisierung politischer Teilhabe.
Doch das Leben der Menschen in Albanien – die mit Würde und Verzweiflung nach Wegen in der Welt und nach Lösungswegen in einem blockierten System suchen – ist keine Bühne für politische Inszenierung.
Und Edi Rama hat kein Mandat, sie zu bespielen.
- Virginia Eubanks, Automating Inequality: How High-Tech Tools Profile, Police, and Punish the Poor, St. Martin’s Press, 2018.
→ Zentrale These zur algorithmischen Verstärkung struktureller Ungleichheiten, entfaltet in Kapitel 1 („Introduction“) und Kapitel 2 („The Digital Poorhouse“).
→ Zitat in deutscher Übersetzung: „Automatisierte Entscheidungssysteme, die nicht explizit darauf ausgerichtet sind, bestehende strukturelle Ungleichheiten abzubauen, intensivieren diese vielmehr – und das mit einer bislang unerreichten Geschwindigkeit und Reichweite.“ ↩︎ - Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper Verlag, München, 1955.
→ Die Formulierung „Banalität des Bösen“ wird später in Eichmann in Jerusalem (1963) vertieft, ist aber bereits in ihrer Bürokratieanalyse angelegt: Verantwortung verschwindet hinter routinisierten Abläufen, die als technisch notwendig erscheinen.
→ Juristisch relevant für die Entkopplung von Handlung und Haftung im Verwaltungsapparat. ↩︎ - Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz Berlin, 2012.
→ Han entlarvt die Illusion totaler Sichtbarkeit: In einer Welt, in der alles sichtbar scheint, wird Kontrolle zur Fiktion – und Verantwortlichkeit zur rhetorischen Geste.
→ Philosophisch relevant für die Entmaterialisierung politischer Verantwortung durch Interface-Logik. ↩︎ - Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, PublicAffairs, New York, 2019.
→ Zuboff analysiert, wie digitale Plattformen nicht zur Dezentralisierung von Macht führen, sondern zur Konzentration ökonomischer und politischer Kontrolle in wenigen Händen.
→ Besonders relevant für die algorithmische Struktur öffentlicher Vergabeprozesse und die Illusion von Transparenz im digitalen Kapitalismus. ↩︎ - Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, Crown Publishing Group, New York, 2016.
→ O’Neil analysiert, wie algorithmische Systeme Entscheidungen treffen, die sich weder nachvollziehen noch überprüfen oder korrigieren lassen – insbesondere, wenn sie als „neutral“ erscheinen, aber auf intransparenter Parametrisierung beruhen.
→ Besonders relevant für die juristische und demokratische Kritik an Blackbox-ADM in öffentlichen Entscheidungsprozessen ↩︎

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